16 November 2012

Das Märchen vom Herbst


Einst existierten Menschen und Geister friedlich nebeneinander. Die Menschen lebten in ihren Dörfern und bewirtschafteten fleißig ihre Felder, die Geister lebten in den Bäumen, den Pflanzen, den Bächen, wie es ihrer Natur entsprach. Sie unterstützten die Menschen in ihrer Arbeit, indem sie das Land segneten und die Pflanzen zum Wachsen überzeugten.
Unter den vielen anderen waren vier junge Geister besonders temperamentvoll; Sommer war feurig und frohen Gemüts; sie genoss es, Wärme als dichtes Tuch über das Land zu legen und zu spüren, wie die Erde unter ihrer Berührung trocknete und kühles Nass sie dann wieder lockerte.
Frühling war ruhiger und sanfter, verbreitete aber ebenso wie ihre Schwester Wärme und Leben und liebte die Pflanzen, die unter ihrem Blick erblühten, mehr noch als ihre Familie.
Winter war der Älteste der vier Geister-Geschwister. Sein Blick war kalt und wohin er kam, folgte ihm ein frostiger Wind. Ebenso wie er Schnee brachte, brachte er vielen Menschen ein sanftes Entschlummern unter seiner eisigen Hand und wurde bald als Bote des Todes gefürchtet.
Herbst war aufbrausend und stürmisch. Seine Stimmung schlug um, wie eine Buchseite in dem Wind, der ihn ständig begleitete und so brachte er mal die Wärme seiner Schwestern mit sich, mal die Kälte seines Bruders, manches Mal auch Stürme und Regenfälle, welche die Menschen erschrocken in die Häuser fliehen ließen.
Obwohl die Geschwister schwierige Zeitgenossen waren, waren sie doch reinen Herzens und versuchten den Menschen Gutes zu bringen, was die Menschen ihnen mit Festen und Freundschaft dankten.

Irgendwann begannen die Menschen Häuser aus Stein zu erbauen, in die Herbsts Winde nicht mehr dringen konnten und die Sommers Wärme nicht erhitzte. Sie zogen eine Mauer um ihre Siedlungen, die Frühlings Blütenmeer ausschlossen und pflügten dieses über die Maßen um, um mehr Menschen ernähren zu können. Sie schimpften über den Winter, der immer wieder Alte und Kranke einschlafen ließ, damit sie niemals wieder aufwachten.
Während in den Menschen die Furcht vor den Mächten der Geister wuchs, lernte Herbst ein junges Bauernmädchen kennen. Er traf sie im Wald, wo sie die Pilze sammelten, die sich an die Wurzeln der Bäume drückten, um Herbsts Begleitern, den Winden, zu entkommen. Ihr blondes Haar war von Sommers Gunst gebleicht und ihre Wangen mit Sprossen versehen, die erglühten, als sie lachte, sobald ihr kleiner Bruder stolperte.
Herbst verlor sich in der Betrachtung der Gestalt, die zierlicher erschien als seine Schwester Frühling und schöner als alle Blüten, die diese hervorbrachte. Sie schien noch lebendiger als die Pflanzen, die sich unter Sommers Güte gen Himmel reckten und weit vielseitiger als die Schneekristalle, die sein Bruder zu formen vermochte, und die jede einzigartig und wundervoll war. Sie schien alles das, was Herbst nicht war: Schön, offenherzig und menschlich.
So lange beobachtete er das Mädchen, dass die Blätter an den Bäumen um ihn herum in der aufkommenden Kühle das saftige Grün verloren, welches die Küsse seiner Schwestern ihnen schenkten, und rot und gelb wurden. Die Kinder in seiner Nähe erschraken, als der Wald sich plötzlich von seiner buntesten Seite zeigte und die Baumgeister flüsternd von den Jahreszeiten sangen.
Als sie herumfuhren, um die Quelle der Veränderung zu erfassen, fiel ihr Blick auf Herbst und sie flüchteten, verängstigt vor der unbekannten Gestalt, von der ihre Väter nur noch böses erzählen konnten.
Die einstige Freundschaft hatten die Menschen schon lange vergessen.

Die Menschen erschraken, als sie von den Kindern hörten, was im Wald geschehen war, und wussten, dass dies das Ende der Welt sein würde, wenn sie die Geister nicht bannten. Sie riefen nach Hexen und Geistlichen, nach Schamanen und Weisen, aber es sollte Jahre dauern, ehe ihnen jemand sagen konnte, wie Geister zu bannen waren.

In der Zwischenzeit wuchs das blonde Mädchen heran und begriff, dass ihr im Wald nichts geschehen war und wäre, dass der Geist, den sie gesehen hatte, friedlich sein musste, doch niemand lauschte ihren Worten. So machte sie sich schließlich selbst auf die Suche nach dem Geist, suchte ihn bei den Pilzen und Bäumen.

Die Lichtung, auf der sie ihn traf, war jene, auf der sie ihn das erste Mal sah: Von den Bäumen fielen die Blätter herab, als weinten sie um den Geist, der still da saß und zu trauern schien.
Obwohl Frühlings Anwesenheit die Blätter wieder und wieder neu spießen ließen, färbten sie sich doch alsbald rot und gelb und sanken schließlich in stillem Kummer zu Boden.
„Warum trauerst du?“, fragte das Mädchen, sobald sie ihren gesamten Mut zusammengenommen hatte, doch Herbst sah nicht einmal auf.
Frühling aber richtete sich auf, legte ihr blasses, durchscheinendes Köpfchen schief und sah sie fragend an. „Er leidet an einem gebrochenen Herzen. Das Mädchen, das er mochte, hat die Menschen gegen uns aufgebracht. Er wollte sie nie verschrecken, aber sie floh vor ihm.“
Das Mädchen schlug erschrocken die Hände vor den Mund. Sie wusste, wer gemeint war, und sie wusste, es war ihre Schuld, dass Herbst trauerte. „Und wie kann das Mädchen ihre Tat wieder gut machen?“
Nun langsam sah Herbst auf, erkannte das Mädchen, an das er mit nur einem Blick sein Herz verlor, und sprang erfreut auf. Ein brausender Herbstwind riss an ihrem Kleid und wehte alle Blätter, die sich am Boden abgelegt hatten, in die Höhe, dass sie vor Freude tanzten und feierten.
„Ich wollte dich nur kennen lernen!“ Die Stimme des Herbstes klang eigenartig fern und hallend, wie es bei Geistern üblich zu sein schien, aber erfüllt von aufrichtiger Freude. „Es tut mir Leid, dass ich dir Schrecken bereitete. Mein Name ist Herbst.“
Das Mädchen lachte ihr Lachen, das ihn so sehr freute, und gesellte sich zu den Geistern.

Die Familie des Mädchens sorgte sich, als es zur Dämmerung noch fort war und begann eine Suche im Wald. Mit Fackeln und Laternen eilte das gesamte Dörfchen zwischen den Bäumen in die Tiefen des Waldes hinein, wo sie schließlich die Tochter fanden. Obwohl das Mädchen schrie und weinte, lauschte niemand ihren Worten, die dem Glauben der Dorfbewohner widersprachen. Die Dörfler gingen davon aus, dass die Geister das Kind in den Wald hinein entführten.
Man brachte das blonde Mädchen fort und verriegelte alle Türen und Fenster fest in dieser Nacht, auf dass kein Geist in das Haus eindringen sollte.
Aber Herbst suchte und fand seinen Weg in das Kämmerlein seiner Geliebten, die aufschrak, als ein kühler Wind über ihre von Tränen noch feuchten Wangen streichelte. „Herbst,“ flüsterte sie, „du darfst nicht hier sein!“
Er versuchte sie zu beruhigen, doch seine Stimme klang zu laut in dem Zimmer, worauf schon bald der Hausherr erwachte. Mit gewaltigen Schritten näherte er sich der Tür zu der Kammer. Seine Faust traf auf das Holz, gegen das sich das Mädchen drückte, um ihnen einige Momente zu verschaffen. „Geh!“ Ihre Stimme zitterte vor Angst und Sorge, doch war sie beherrscht leise, damit ihr Vater vor der Türe nichts hörte. „Ich werde eine Laterne schnitzen und aufstellen! Wenn du mich sehen willst, so verstecke dich in der Laterne und schicke etwas Licht durch die Löcher, damit ich weiß, dass du da bist!“
Herbst verstand und verließ das Mädchen, dass ihren Vater mit vielen Worten besänftigen konnte und ihm einredete, es habe nur den Wind gehört, der um das Haus fuhr.

Am folgenden Tage saß das Mädchen da und schnitzte. Sie weigerte sich, Holz zu nehmen, da sie wusste, dass in diesem die Baumgeister lebten, so viel hatte sie von ihren neuen Freunden gelernt. Da ihr nicht viel anderes blieb, höhlte sie sorgsam einen Kürbis aus und erklärte ihrer Mutter, dass sie aus diesem das Abendbrot zu kochen gedachte. Den Körper des Kürbisses verzierte sie mit einem Gesicht, durch das Herbsts goldenes Licht scheinen sollte, und stellte diesen auf ihr Fensterbrett.
Fortan drang abends, wenn die Familie schlief, Herbst in den Hohlkörper und gesellte sich so zu dem Mädchen, während er ihr Kämmerlein sanft mit goldenem Licht erfüllte. Manchmal unterhielten sie sich bis zum Morgengrauen, manchmal waren sie still beisammen und oftmals schlief das Mädchen ihm ein, eine dichte Decke gegen Herbsts Winde um die Schultern geschlungen, auf einem Hocker am Fenster sitzend, die Arme neben der Laterne auf dem Brett verschränkt und Herbst beobachtete ihr hübsches Antlitz, auf dem sein Licht sanfte Schatten warf, bis der Morgen sie aus dem Schlummer riss.

Aber die Angst und der Aberglaube der Menschen, dass Geister böse seien und Kinder entführten, wuchs in all der Zeit immer weiter, während aus dem Mädchen eine Frau wurde. Sie sagten dass die Frau mit ihren Geschichten über den guten, freundlichen Sinn der Geister, niemals einen Mann finden würde. Sie blieb daheim und half ihren Eltern und Brüdern auf dem Hof, während ihre Schwester in eine ferne Stadt verheiratet wurde.
Ein unbekannter Wandersmann brachte den Dorfbewohnern Kunde aus ebenjener Stadt: Die Geister waren dort gebannt worden und die Natur gebändigt. Auch erzählte er, dass er das Geheimnis der Banne, die man brauchte, kenne und er es den Menschen im Dorfe erzählen würde, wenn diese nur zahlten.
Da die Menschen die Geister so sehr fürchteten, waren sie bereit, zu zahlen, noch ehe die blonde Frau davon erfuhr und ihre Freunde und ihren geliebten Herbst warnen konnte.
Bei Sonnenuntergang war der Preis aufgebracht und der alte Wanderer zauberte.
Die kleinen Naturgeister wurden fest in ihr Haus, in Blumen und Bäume, gefesselt, die Winde verloren ihre Stimme und der Bächlein Lied brach abrupt ab. „Nur die Geschwister“, sagte der Mann, „die kann ich nicht so einfach bannen. Wenn ich auch sie beseitigen soll, so müsst ihr mir noch Unterkunft und Kost für die nächsten Tage gewähren.“
Als diese versprochen waren, machte sich der Mann an seine Arbeit. Die Geschwister, die sich aus den Himmelsrichtungen dem Dorf näherten, brachten in ihrer Aufregung Feuer und Eis, Sturm und Erdbeben mit sich, Blitze zuckten über den Himmel und Donner ließen die Häuser erzittern. Die junge Frau rannte Herbst schreiend entgegen, wollte ihn und seine Geschwister warnen, fortschicken oder besänftigen, da es ihre Familie war, die nun in Gefahr geriet. Ihre Stimme ging jedoch im Tosen unter, erreichte seine Ohren nicht, da er noch zu weit entfernt war. Während die Menschen Kreuze gegen das Böse schlugen, sprach der Zauberer seinen Fluch und ein Knall, ähnlich einem Peitschenhieb, erklang.
Plötzlich war Ruhe. Wolken waren verschwunden, die Erde rebellierte nicht mehr, die Flammen waren erloschen und das Eis geschmolzen.
Wo Sommer sich ihren Weg durch Weiden gesucht hatte, war eine verkohlte Schneise zu erkennen, an deren Ende ein großer Felsen steil gen Himmel ragte, wie man es zuvor noch nie gesehen hatte. Von ihr aus gesehen auf der anderen Seite des Dorfes hatte sich Winter genähert, dessen Zorn Pflanzen hinterlassen hatte, die in Kälte und Frost verkümmert und gestorben waren. An der Stelle, an der er von dem Fluch des Wanderers erreicht wurde, sprudelte eine Quelle, deren Wasser kalt und klar wie das eines Gebirgsbaches war. An Frühlings Stelle befand sich, mitten auf dem Weg, der zum Dorf führte, und um den die Erde aufgerissen war, ein gigantischer Baum, größer als alle anderen der Umgebung, von dessen Astspitzen die Blätter kleiner, weißer Blüten in unendlicher Trauer herabsanken.
Die blonde Frau erreichte den Punkt, an dem Herbst wenig zuvor noch gewesen sein musste: Die hohen Getreideähren waren von Wind und Sturm umgeknickt, zu Boden gedrückt und abgerissen. Mit zitternden Fingern berührte sie den groben Stoff, der eine Vogelscheuche einkleidete. Das Gesicht der Strohpuppe war mit dunklen Steinen verziert, die sie wie Augen, erfüllt von Tränen, ansahen. Sie weinte und verfluchte die Menschen des Dorfes, aber niemand hatte Zeit, ihr zu lauschen, da der Wanderer sprach:
„Die Seelen der Geschwister konnte ich nicht vollständig in ihre neuen Körper verbannen, dazu waren ihre Kräfte durch ihre unendliche Lebenszeit und die Freundschaft, die sie erfahren haben, zu stark. Aber sie werden niemals wieder gemeinsam durch diese Landschaft streifen. Auch werden sie sich nie wieder treffen, um Unheil anzurichten.“
Allein und verloren war nunmehr jeder Einzelne der Geschwister dazu verdammt, seinem Weg um die Welt zu folgen. Niemals konnte einer den anderen einholen. Immer würde ihnen die Macht folgen, die sie früher schon hatten. So würde Winter den Menschen Schnee bringen und Frühling, die ihm Monate später folgte, frisches Leben und Grün. Sommer würde ihrer Schwester folgen und mit ihrer Hitze und der Sonne die Pflanzen reifen und wachsen lassen, bis Herbst, der ebenso zu Einsamkeit verdammt war, seiner ewigen Trauer im Fallen der Blätter Ausdruck verleihen würde. Erst Winters Schnee, der Monate später folgte, würde das Laub am Boden mit seiner weißen Pracht verbergen...


Die junge Frau weinte. Jeden Tag wartete sie darauf, dass ein Lichtlein in ihre Laterne fahren würde, doch nie geschah dies, bis sie schließlich begann, Kerzen in die Kürbislaterne zu stellen, um ihre Einsamkeit zu schmälern und die Erinnerungen an Herbst lebendig zu halten.
Immer, wenn der Wind die Getreideähren rascheln ließ, suchte sie die einsame Vogelscheuche auf. Sie setzte sich zu ihr, spielte ihr auf ihrer Flöte Lieder, und hoffte, eine Regung zu finden.
Die Menschen fürchteten die Punkte, an denen die Geschwister gebannt waren; so trank keiner von Winters Wasser oder aß von den Früchten an Frühlings Zweigen. Niemand baute rund um den Felsen oder die Vogelscheuche etwas an oder ließ dort Tiere weiden.
Nur die junge Frau pflanzte auf dem ungenutzten Gebiet um Herbst Kürbisse an.

Für die Menschen war es ungewohnt, dass die Zeit sich nun in verschiedene Phasen teilte. Sie bezeichneten die Abfolge der Geschwister schließlich als Jahr. Je nach Zeit des Jahres änderten sich die Umstände für ihre Wirtschaft: Im Frühling säten sie ihr Getreide, das im Sommer reifte und im Herbst zu ernten war – nur im Winter wuchs und gedieh nichts, denn Winter, so sagten sie sich, zürnte ihrer noch immer am meisten.

Einige Jahre nach dem Vorfall, als die Frau doch bereits verheiratet war und regelmäßig zur Herbstzeit Kürbislaternen schnitzte, die sie verkaufte oder im Dorf und anliegenden Wald aufstellte, fand die Seele des Herbstes seinen Weg direkt zu dem Dorf, das er einst so gut kannte. In den Jahren zuvor musste er es auf seinem endlosen Weg verfehlt haben; erst jetzt erreichte er sein Ziel, an dem er doch nicht lange verweilen konnte.
In der Hoffnung, seine Geliebte zu treffen, fuhr er in die Vogelscheuche, in der der Rest seines Selbst schlief und begann zu blinzeln. Am Boden vor ihm lag die Flöte, mit der die Frau ihm so oft vorgespielt hatte, woran er sich nun erinnern konnte. Er bückte sich danach und legte sie vorsichtig an seine Lippen, ließ seine Finger über das Holz fahren und spielte eine Melodie, welche die Geister in seinem Umfeld erwachen ließ. Die Naturgeister in den Kürbissen um ihn herum reckten sich, die Geister in Bäumen und Gräsern seufzten erleichtert; nur seine Geschwister rührten sich nicht, während Herbsts Gestalt aus zerrissenen Kleidern und Stroh an Lebendigkeit gewann, solange er spielte.

Nur eine Frau hörte die sanften Klänge von einer Flöte, die sie nur zu gut kannte. Erschrocken fuhr sie auf und verließ das Ehebett um nach draußen zu stürmen, bloß eine wollene Decke um die Schultern gelegt, die sonst nur ein dünnes Nachthemd bedeckte. Sie erkannte das leichte goldene Licht, das unweit dem Dorfe bei ihren Kürbissen strahlte und weinte Tränen der Freude.
Herbst konnte sein Lied nicht beenden, doch ihre Blicke trafen sich, als sie sein Strahlen erreichte und in dem goldenen Licht war sie weniger die reife, verhärmte Frau, zu der Trauer und Kummer sie gemacht hatten, als vielmehr das junge Mädchen, dessen Sommersprossen vor Freude glühten, als sie die andere Hand ergriff.

Quelle unbekannt

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