17 Juni 2014

Auf der Wiese

An einem wolkigen, nicht allzu warmen Junitag war gerade ein Regenschauer über eine Wiese gezogen. Auf einer kahlen Stelle im Gras ringelten sich zwei Regenwürmer umeinander. Ganz entzückt beobachtete ein Gänseblümchen dies und machte seine Nachbarin, eine Butterblume, darauf aufmerksam. „Schau doch, die Regenwürmer, sie tanzen.“ Die Butterblume bemerkte mit mehr Kunstverstand, dass dies nicht nur ein Tanz sei, sondern eine freie Improvisation. Man könne es daran erkennen, dass die Bewegungen keiner einstudierten Richtung folgen, sondern vielmehr einem organischen Entstehen entspringen. Dafür sei auch die natürliche Begleitmusik, nämlich ein leichter Wind, der durch die Gräser strich, ein untrügliches Zeichen.

Ein Fingerhut, der gleich nebenan wuchs, folgte dieser Belehrung eine Weile und schaltete sich dann mit realistischem Sachverstand ein. „Meine Lieben, das ist keine tänzerische Darbietung. Die beiden ringen ganz profan und messen ihre Kräfte.“ Woraufhin sich ein Käfer zu diesem Schauspiel gesellte. Er pflichtete dem Fingerhut bei, jedoch nur bedingt. Die beiden wohnen in seiner Nachbarschaft und seien dafür bekannt, dass sie sich ständig in die Haare kriegten. Das sei ein Streit unter Brüdern.

Eine Fliege flog heran und schüttelte sich bei dem Anblick der beiden Würmer. Wie man nur so blind sein könne, ereiferte sie sich. Diese beiden Wesen seien sich lustvoll Liebende, die schamlos in aller Öffentlichkeit
übereinander herfallen und denen jedes Gefühl für Anstand abhanden gekommen sei. Mit Kunst, Romantik oder Kräftemessen hätte das nichts zu tun.

Bei dem Stichwort Romantik war ein Schmetterling aufmerksam geworden und eilte herbei. Von diesem Thema verstand er eine Menge und das, was er da sah, hatte nichts mit zartem Gefühl zu tun. Ein Raubüberfall, das sei es, und er konnte bezeugen, dass es nicht das erste Mal sei, dass sich so etwas dieser Tage ereigne. Der Schmetterling wusste zu berichten, dass derlei Übergriffe im Moment anstiegen und dass besonders Tage, an denen das Wetter schlecht sei, diese aggressiven Gemüter anstachele.

Angewidert und auch etwas verängstigt entfernte er sich vom Ort des Geschehens und musste sich erst einmal auf einem niedrig gelegenen Zweig einer Buche ausruhen. Dort kam er mit einer Meise ins Gespräch, die ihm aufmerksam und immer nervöser werdend lauschte. Ja, diese Vorkommnisse waren ihr auch schon aufgefallen. Das werde immer mehr und mehr, es arte in einen regelrechten Krieg aus und man könne sich nicht mehr sicher sein, ob dieser nicht bald auch auf andere Tiere übergreife.

Das furchtsame Gemüt der Meise trieb sie in die höheren Regionen der Buche und sie benötigte dringend jemanden, dem sie ihre Besorgnis anvertrauen konnte. Eine ihr entfernt bekannte Amsel kam ihr da gerade recht. „Ein Krieg, ein Krieg bricht aus! Der Himmel steh uns bei und das auf unserer friedlichen Wiese. Das Abschlachten hat schon begonnen. Da, gleich da unten. Ich muss meine Vorkehrungen treffen und fliehen.“

Die Amsel war ganz verwirrt von diesem beunruhigenden Bericht und wandte sich an ihre Baumfreundin. Die Buche hatte alles mitgehört und aus ihrer langjährigen Erfahrung mit aufgeregten Vögeln wusste sie, dass man sich lieber selbst eine Meinung bilden sollte. Sie schlug der Amsel vor, doch einmal hinunterzufliegen und die Sache in Augenschein zu nehmen. Von ihrer hohen Warte aus konnte die Buche nicht gut sehen, was sich da am Boden abspielte.

Diese Entscheidung hielt die Amsel für sehr weise und flog hinunter zu der kahlen Stelle auf der Wiese. Auf dem Weg ging ihr auf, dass sie nun quasi in den Rang einer Kriegsberichterstatterin aufgestiegen war und überlegte, ob dies vielleicht ihre zukünftige Aufgabe sei. Auf dem Erdboden angekommen wurde sie zur Augenzeugin der Geschehnisse. Jedoch herrschte durch die Streitigkeiten und Kommentare der Umstehenden ein solches Durcheinander, dass sie beschloss, die Regenwürmer sollten selbst der weisen Buche über ihr Vorhaben Rede und Antwort stehen. Kurzerhand nahm sie die beiden in den Schnabel und flog mit ihnen, zur Überraschung aller Zeugen, hinauf in die Baumkrone.

Im Aufstiegsflug gerieten die Würmer ob der ungewohnten Höhe in Panik und ringelten, was das Zeug hielt.
Dies machte die Amsel ungeheuer nervös, sodass sie die Würmer in der Aufregung versehentlich verschluckte. Oben im Baum angekommen, musste sie der Buche ihr Missgeschick gestehen, erläuterte aber auch ihre guten Absichten.

In ihrer ruhigen Art hatte die Buche Verständnis und versuchte, so gut es ging, mit ihren sanft raschelnden Worten den Vogel zu trösten. Die Amsel jedoch erkannte, dass das alles ein bisschen viel für sie gewesen war und entfernte sich, um für sich selbst Klarheit zu erlangen. Die beiden Würmer lagen ihr schwer im Magen.

Noch Tage später gab es unter den Wiesenbewohnern kein anderes Thema, als die Geschehnisse um die sich ringelnden Regenwürmer. Die einen sahen es als tragisches Schicksal von streitenden Kindern oder Liebenden an. Die anderen hielten nach weiteren solcher Kampfszenen Ausschau und sorgten sich um ihre Sicherheit. Wieder andere wetterten gegen die Fresslust ungeschlachter Vögel, die der Kunst den Garaus machen. Jedoch konnte keiner, noch nicht einmal die alte, wissende Buche, sich einen Reim darauf machen, was hier wirklich geschehen war an diesem wolkigen, nicht allzu warmen Junitag.

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