18 Dezember 2014
Güte – eine Erinnerung an eine in Vergessenheit geratene Eigenschaft
Wenn man das Wort Güte hört, hat man häufig das Bild eines älteren Menschen vor Augen, der mit freundlicher Nachsicht durch die Brillengläser blinzelt und in dessen Stimme Mitgefühl und Vergebung mitschwingt. Das Ergebnis eines langen Lebens, in dem auch Bedächtigkeit und das Wissen um die menschliche Natur ihren Platz gefunden haben. Aber was bedeutet diese altmodisch anmutende Eigenschaft eigentlich?
Dazu fand ich ein paar interessante Definitionen, die ich Dir einmal vorstellen möchte:
Die innere Haltung der Großmut, den Mitmenschen in seinen Möglichkeiten und Fehlern gelten zu lassen und ihm zur Seite stehen; auch der einer Sache oder Ware zuerkannte Wert, auf Grund dessen sie als erstrebenswertes Gut gilt
Brockhaus Lexikon
Güte, die: (auf seine Mitmenschen gerichtete) milde, freundliche, von Wohlwollen und Nachsicht bestimmte Gesinnung
Duden, Das Bedeutungswörterbuch
Freundlichkeit, Hilfsbereitschaft;
Liebevolle, warmherzige Wesensart, rücksichts- und verständnisvolle Gesinnung
www.fremdwort.de
Milde, Wohlwollen, Nachsicht, Verständnis – Eigenschaften, die wir als wertvoll betrachten und die verloren zu gehen scheinen, wenn man sich unsere schnelllebige, erfolgs- und konkurrenzorientierte Lebensweise vor Augen hält. Ist das wirklich so? Werden diese Wesenszüge tatsächlich immer weniger oder schauen wir nur nicht mehr genau hin und bemerken sie weniger? Zugegeben, es sind keine auffälligen Eigenschaften, die uns per Werbebotschaften gebetsmühlenartig eingetrichtert werden. Erfolg muss der Mensch haben, jugendlich, gesund und schön aussehen, Status muss erreicht werden und Macht, man muss Charme haben, Charisma und sich durchsetzen können. Das kennen wir ja zur Genüge. Aber was ist mit den leiseren, weniger augenfälligen Dingen im Leben?
Die Güte des Menschen ist eine Flamme, die zwar versteckt, aber nicht ausgelöscht werden kann.
Nelson Mandela
Hinschauen scheint mir das Zauberwort zu sein. Ein Beispiel? An einem Sonntag in der U-Bahn, ein Tag, an dem die Menschen ohnehin etwas entspannter sind, verfolgte ich eine kleine Begebenheit. Eine alte Dame, schon frühzeitig an der Ausstiegstür stehend, bat einen jungen Mann, ihr doch beim Verlassen der Bahn zu helfen. Der junge Mann sagte es ihr zu und meinte: „Da ist ja noch eine Treppe nach unten. Ich muss auch aussteigen und dann machen wir das mit der Treppe zusammen, ja?“ Die Dame schaute ihn zuerst ungläubig an und folgte ihm dann mit einem noch etwas verwirrten Lächeln. So viel Freundlichkeit auf einmal ist man ja gar nicht mehr gewöhnt. Der junge Mann hatte ihr aber nicht nur seine Hilfe angeboten. Mit seiner Formulierung „dann machen wir das zusammen“ hat er ihr Gemeinschaft und vor allem Würde angeboten, die sie nicht als hilflose Frau dastehen ließ. Der junge Mann versteht etwas von Güte und hat sie in einer so kleinen Situation auf großartige Weise gezeigt.
Ein bisschen Güte von Mensch zu Mensch ist besser als alle Liebe zur Menschheit.
Richard Dehmel, dt. Dichter
Später stieg ein älteres, beleibtes Paar mit einem kleinen Mädchen zu. Vielleicht waren es die Großeltern, die ihre Enkelin abgeholt hatten und sie trugen eine große Reisetasche, die offensichtlich schwer war. Sie fanden Sitzplätze im hinteren Bereich – es waren die letzten im Abteil – und die Tasche war im Weg. Hier nahm ihnen eine junge Frau, die wie eine Studentin aussah, ohne viel Federlesens die Tasche ab und hielt sie auf ihrem Schoß, bis die Herrschaften mit der Kleinen aussteigen mussten. Das ältere Paar war sehr dankbar über die Freundlichkeit, denn einen Sitzplatz, der ausgereicht hätte, hatten sie ja. Die junge Frau hat ganz offensichtlich mitgedacht und ihnen die Fahrt erleichtert. Sie hat einfach akzeptiert, dass es den Großeltern mit Tasche und Körperfülle eng wurde und hat ganz unkompliziert Abhilfe geleistet.
Wie dem Geiste nichts zu groß ist, so ist der Güte nichts zu klein.
Jean Paul
Es sind so kleine Dinge, die die Menschen füreinander tun können und sie können eine so schöne Wirkung haben. Und man braucht wirklich kein geschulter Sozialpädagoge oder Alltagsbegleiterin mit Ausbildungsschein zu sein, um solche Dinge geben zu können. Den Freunden, den Bekannten, den Fremden, man kann im Grunde immer eine Situation finden, in der man einem Menschen zeigen kann, dass man ihn anerkennt und unterstützt. Der Freundin, die sich erst einmal ausmeckern muss, weil sie eine Auseinandersetzung bei der Arbeit hatte. Dem Kollegen, der etwas langsam und übernächtigt ist und nicht geordnet und in ganzen Sätzen spricht. Der Nachbarin, die nicht mehr gut zu Fuß ist und die Heimkommenden im Treppenhaus aufhält. Irgendjemandem, der vollgepackt mit Einkäufen durch ein Gebäude gehen muss und anderen mit seinen Tüten zu nah kommt. Der Trainerin, die zu spät kommt, weil sie im Stau steckte. Es gibt viele Situationen, in denen wir unseren Mitmenschen gütig gegenübertreten können. Das heißt ja nicht, wir geben der Welt einen Freifahrtschein, um auf uns herum zu trampeln und unsere Grenzen zu verletzen. Aber vielleicht ist es ab und zu möglich, den anderen Menschen einfach einmal ein bisschen genauer anzusehen und sich vorzustellen, wie es einem selbst wohl an seiner Stelle gehen würde.
Güte beim Denken erzeugt Tiefe, Güte beim Verschenken erzeugt Liebe, Güte in den Worten erzeugt Wahrheit.
Laotse
Wenn man sich einen gütigen Menschen einmal genauer ansieht, wird man feststellen, dass er irgendwie anziehend, vielleicht sogar schön wirkt durch das, was er ausstrahlt. Die Außenwirkung ist natürlich prima und die drumherum Anwesenden schauen mit warmem Herzen, manchmal sogar bewundernd auf eine Person, die Güte ausstrahlt. Aber welche Schönheit mag wohl IN einen gütigen Menschen herrschen, dass er sie nach außen tragen kann? Welche Wärme mag in einem solchen Menschen sein, sodass sich auch andere daran wärmen können? Ist das ein besonderer Mensch? Nein, ganz bestimmt nicht. Die Dinge, die ein gütiger Mensch tun kann, kann jeder tun. Und jeder kann diese Schönheit und Wärme in sich selbst spüren und erzeugen, weil Güte eine ureigene menschliche Eigenschaft ist. Man muss eben nur hinschauen und selbst auf gütige Weise denken oder handeln, auch sich selbst gegenüber. Man muss nur hinschauen, um sie im Alltag zu entdecken und sich von ihr inspirieren zu lassen. Güte kann die Seele vor Bitterkeit und Bosheit bewahren, weil sie größer ist als ein begrenzendes, verletzliches Ego, das sich vor der Welt schützen muss und sich in Wertungen und Vergleichen verliert.
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