20 Mai 2011

Perfektion und Schuldgefühle: Zwei mangelhafte Backsteine ° Ajahn Brahm



Nachdem wir 1983 Land für unser Kloster gekauft hatten, waren wir völlig pleite und steckten bis zum Hals in Schulden. Auf dem Grundstück selbst stand kein einziges Haus, nicht einmal ein Schuppen. In jenen ersten Wochen schliefen wir auf alten Türen, die wir billig auf dem Schuttabladeplatz erstanden hatten.

Mit untergelegten Backsteinen wurden diese Türen zu Betten, wobei wir als Mönche eines Waldklosters natürlich auf Matratzen verzichteten.

Der Abt schlief auf der Tür, die am besten erhalten war und über eine angenehm glatte Oberfläche verfügte. Meine hingegen war geriffelt und wies überdies noch ein beachtliches Loch in der Mitte auf, nämlich an jener Stelle, wo einst der Türknauf gesessen hatte. Ich war zwar froh, dass der Knauf überhaupt entfernt worden war, aber nun befand sich mitten auf meiner Schlafunterlage ein Loch. Ich machte Witze darüber, dass ich nicht einmal mehr zum Austreten würde aufstehen müssen, aber zum Lachen war mir eigentlich nicht zumute, denn kalter Wind pfiff nachts durch dieses Loch. In jener Zeit schlief ich sehr schlecht.

Wir waren arme Mönche, aber wir brauchten ein Dach über dem Kopf. Bauarbeiter konnten wir uns nicht leisten – schon die Kosten für das Material waren ja kaum aufzubringen! Also musste ich das Bauen von Grund auf erlernen: wie man ein Fundament legt, betoniert, mauert, ein Dach zimmert und sanitäre Einrichtungen einbaut, eben alles, was zum Bau gehört.

Mein bürgerliches Leben als Physiker und Lehrer hatte mich nicht darauf vorbereitet, mit den Händen zu arbeiten. Doch im Verlauf einiger weniger Jahre wurde ich zu einem recht geschickten Bauarbeiter und nannte mein Team schon bald BBC (Buddhistische Bau Company). Der Anfang war allerdings außerordentlich mühsam.

Dem Außenstehenden mag Maurerarbeit leicht erscheinen: Man pappt etwas Mörtel auf den Stein, setzt ihn an seine Stelle und klopft ihn ein bisschen fest. Wenn ich aber leicht auf eine Ecke schlug, um eine ebene Oberfläche zu erhalten, stieg eine andere Ecke nach oben. Kaum hatte ich diese auch festgeklopft, tanzte auf einmal der ganze Stein aus der Reihe. Behutsam brachte ich ihn also wieder in die richtige Position, um gleich danach festzustellen, dass die erste Ecke schon wieder hochragte. Es war zum Verzweifeln. Wenn Sie mir nicht glauben, versuchen Sie’s doch selbst einmal!

Als Mönch verfügte ich über so viel Geduld und Zeit, wie ich brauchte. Ich gab mir also große Mühe, jeden Backstein perfekt einzupassen, ganz gleich, wie viel Zeit ich dafür benötigte. Und irgendwann war die erste Backsteinmauer meines Lebens fertig gestellt. Voller Stolz trat ich einen Schritt zurück, um mein Werk zu begutachten. Erst da fiel mir auf – das durfte doch nicht wahr sein! -, dass zwei Backsteine das Regelmaß störten. Alle anderen Steine waren ordentlich zusammengesetzt worden, aber diese zwei saßen ganz schief in der Mauer. Ein grauenvoller Anblick! Zwei Steine hatten mir die ganze Mauer versaut.

Der Zementmörtel war inzwischen fest geworden. Also konnte ich diese Steine nicht einfach herausziehen und ersetzen. Ich ging zu meinem Abt und fragte, ob ich die Mauer niederreißen oder in die Luft jagen und neu anfangen dürfte. »Nein«, erwiderte der Abt, »die Mauer bleibt so stehen, wie sie ist.«

Als ich die ersten Besucher durch unser neues Kloster führte, vermied ich es stets, mit ihnen an dieser Mauer vorbeizugehen. Ich hasste den Gedanken, dass jemand dieses Stümperwerk sehen könnte. Etwa drei oder vier Monate später wanderte ich mit einem Gast über unser Terrain. Plötzlich fiel sein Blick auf meine Schandmauer.

»Das ist aber eine schöne Mauer«, bemerkte er wie nebenbei.

»Sir, erwiderte ich überrascht, »haben Sie etwa Ihre Brille im Auto vergessen? Oder einen Sehfehler? Fallen Ihnen denn die zwei schief eingesetzten Backsteine nicht auf, die die ganze Mauer verschandeln?«

Seine nächsten Worte veränderten meine Einstellung zur Mauer, zu mir selbst und zu vielen Aspekten des Lebens.

»Ja«, sagte er. »Ich sehe die beiden mangelhaft ausgerichteten Backsteine. Aber ich sehe auch 998 gut eingesetzte Steine.«

Ich war überwältigt. Zum ersten Mal seit drei Monaten sah ich neben den beiden mangelhaften Steinen auch andere Backsteine. Oberhalb und unterhalb der schiefen Steine, zu ihrer Linken und zu ihrer Rechten, befanden sich perfekte Steine, ganz gerade eingesetzt. Ihre Zahl überwog die der schlechten Steine bei weitem.

Bis dahin hatte ich mich ausschließlich auf meine beiden Fehler konzentriert und war allem anderen gegenüber blind gewesen. Deshalb konnte ich den Anblick der Mauer nicht ertragen und wollte ihn anderen Menschen auch nicht zumuten. Deshalb hatte ich das Werk vernichten wollen. Doch als ich jetzt die ordentlichen Backsteine betrachtete, schien die Mauer überhaupt nicht mehr grauenvoll auszusehen. Der Besucher hatte schon Recht: Es war wirklich eine sehr schöne Mauer. Jetzt, zwanzig Jahre später, steht sie immer noch, und inzwischen habe ich längst vergessen, an welcher Stelle die mangelhaften Backsteine stecken. Ich kann sie mittlerweile tatsächlich nicht mehr sehen.

Viele Menschen beenden eine Beziehung oder reichen die Scheidung ein, weil sie bei ihrem Partner nichts anderes mehr sehen als »zwei mangelhafte Steine«. Viele leiden an Depressionen, und manche hegen sogar Selbstmordgedanken, weil sie nichts anderes als »zwei mangelhafte Steine« in sich erkennen können. In Wahrheit gibt es jede Menge guter Steine, perfekter Steine – oberhalb und unterhalb unserer Fehler, zu ihrer Linken und zu ihrer Rechten – aber manchmal können wir sie einfach nicht sehen. Stattdessen konzentriert sich unser Blick ausschließlich auf die Fehler. Wir schauen nur auf den Makel und überlegen, wie wir ihn entfernen können. Und leider vernichten wir auf diese Weise so manche »schöne Mauer«.

Jeder von uns hat zwei mangelhafte Steine, aber die perfekten Steine sind so viel zahlreicher. Haben wir dies erst einmal erkannt, sieht die Welt schon viel besser aus. Wir können dann nicht nur mit uns selbst und unseren Fehlern in Frieden leben, sondern auch das Zusammensein mit einem Partner genießen. Das ist eine schlechte Nachricht für Scheidungsanwälte, aber eine gute für Sie!

Ich erzähle diese Anekdote oft. Irgendwann einmal sprach mich ein Baumeister darauf an und verriet mir ein Berufsgeheimnis.

»Wir machen bei der Arbeit immer wieder mal Fehler«, sagte er, »aber unseren Kunden erklären wir, dass es sich dabei um “eine besondere Eigenheit” handelt, wodurch sich dieses Haus von den anderen in der Nachbarschaft unterscheidet. Und dafür berechnen wir dann ein paar tausend Dollar extra!«

Manche »besondere Eigenheit« an Ihrem Haus galt wahrscheinlich auch ursprünglich als Fehler. Doch was Sie in sich selbst, an Ihrem Partner oder überhaupt am Dasein als Makel betrachtet haben, kann sich zu einer »besonderen Eigenheit« wandeln, die Ihr Leben bereichert. Sie sollten nur endlich aufhören, sich ausschließlich auf die negativen Aspekte zu konzentrieren.

Aus: Die Kuh, die weinte. Buddhistische Geschichten über den Weg zum Glück. Ajahn Brahm, Lotos Verlag, 2007

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