Die Zeiten, in denen plötzlich eine gütige Fee in der ärmlichen Hütte eines Köhlers erschien oder irgendein eigentümliches Fabeltier unvermittelt in der alten Kate eines Fischer auftauchte, um zu verkünden „du bist ein guter Mensch, ich werde dir drei Wünsche erfüllen“, diese Zeiten gehören trotz allgemein gegenteiliger Auffassung durchaus nicht der Vergangenheit an. Vielleicht gibt es heute kaum noch Köhler, und auch die Fischer hausen nur noch selten in Katen; aber die guten Geister, die gibt es noch immer. Nur zeigen sie sich nicht gerne in hell erleuchteten, komfortablen Wohnzimmern, in denen CD-Player oder Fernsehgeräte laufen. Wer ihnen begegnen will, muss schon für eine einladendere Atmosphäre sorgen.
Noch besser ist es freilich, wenn man gar nicht erst auf ihr Kommen wartet, sondern sich selbst auf den Weg macht, um sie zu besuchen.
Herr Frensch hatte eines Tages herausgefunden, wie einfach es ist, hilfreiche Geister zu besuchen. Er hatte entdeckt, dass es wirklich fliegende Teppiche gibt. Und er wusste auch, dass es sich dabei keineswegs um irgendwelche exotischen Zaubermatten aus den geheimen Schatzkammern orientalischer Mager zu handeln braucht. Er hatte festgestellt, dass sich eigentlich jeder beliebige Teppich zum Fliegen eignet, vorausgesetzt, er war nicht gerade sehr hässlich oder stark verschmutzt. Am besten gelangen ihm solche Reisen mit einer einfachen, beige-braunen Brück, die aus nichts anderem als einem sorgfältig umsäumten Teppichboden-Rest bestand.
Es gab nicht viel, dass sich Herr Frensch hätte wünschen können. Im Großen und Ganzen ging es ihm rundum gut. Nur eines belastet ihn: Er konnte nicht Nein sagen. Wenn ihn ein Freund oder ein guter Bekannter um etwas bat, das er eigentlich gar nicht oder nur mit großer Mühe erfüllen konnte, oder das er aus irgendeinem Grunde nicht erfüllen wollte, dann hätte er diese Bitte natürlich abschlagen müssen. Er musste Nein sagen. Aber gerade das gelang ihm nicht. Kaum öffnete er den Mund, da ließ sich – ganz gegen seinen Willen – ein leises aber durchaus deutliches Ja vernehmen. Damit verpflichtete er sich dem Anderen, und weil er solche Pflichten nicht selten als drückende Last empfand, kam es vor, dass sich seine positiven Gefühle gegenüber einem Menschen mit negativen Gedanken mischten, ja, dass er begann, Freunden aus dem Wege zu gehen. Darüber ärgerte er sich, denn im Grunde mochte er seine Freunde und Bekannten doch. Konnte er seine Zusagen schließlich nicht einlösen, dann waren ihm liebe Menschen enttäuscht.
Herr Frensch beschloss deshalb, sein Problem einem jener hilfreichen Geister vorzutragen, die er nur mit seinem fliegenden Teppich erreichen konnte. Am späten Abend brach er auf.
Zuerst steckte er in seinem Wohnzimmer eine Kerze an, dann löschte er das elektrische Licht. Bald brannten auch zwei Räucherstäbchen, die beruhigenden Duft verströmten. Dann legte sich Herr Frensch auf seinen Teppich und schloss die Augen.
Wenig später spürte der Reisende, wie sich die Matte langsam, ganz langsam vom Boden abhob, um in Kreisen zur Zimmerdecke hinaufzuschweben. Obwohl Herr Frensch mit geschlossenen Augen liegen blieb, empfand er, wie er sich auf dem Teppich aufsetzte und sich umsah. Über ihm öffnete sich lautlos die Zimmerdecke und gab den Blick auf den nächtlichen Sternenhimmel frei. Schnell glitt der Teppich weiter in die Höhe. Er verließ das Haus, und Herr Frensch sah unter sich seinen Garten und die Nachbarhäuser. Wenig später umfasste die Aussicht die gewaltigen Hügelketten, die sein Heimatdorf weitläufig umgaben.
Der Aufstieg verlief jetzt schneller und immer schneller. Die Berge verflossen in der Dunkelheit zu einer einheitlichen schwarzen Masse, hier und da durchschnitten von den gewundenen Bändern kleinerer und größerer Flüsse, die mondbeschienen glänzten. An ihren Ufern sah Herr Frensch die Lichter vereinzelter Ortschaften. Mit zunehmender Höhe wurde das Land rasch kleiner.
Als der Teppich die oberen atmosphärischen Schichten erreichte, erfüllte sonores Summen und Brausen die Ohren des Teppichreisenden. Wenig später herrschte tiefe Stille; eine Stille, die Herr Frensch nachgerade körperlich empfand. Die Erde tief unter ihm schrumpfte zu einer kleinen bläulichen Kugel. Er näherte sich dem hell strahlenden Mond. Doch schon flog er an diesem vorbei und drang weiter in das Weltall vor. Als der Teppich den Saturn passierte, erkannte Herr Frensch, dass dessen scheibenförmige Ringe in Wirklichkeit aus unzähligen einzelnen Steintrümmern und Felsbrocken jeder Größe bestehen. Das war das Letzte, was er auf seiner kosmischen Reise sah, bevor der Teppich schließlich sanft auf dem sandigen Strand eines Meeres aufsetzte. Es begann hier gerade zu dämmern. „Ich möchte meinen Lehrer sehen“, sagte Herr Frensch laut, denn so bezeichnete er die ihm von früheren Teppichreisen bekannte Figur, die ihm mit Rat und Tat zur Seite Stand, wenn er sich das ganz fest wünschte.
Eine große, in ein langes weißes Gewand gekleidete Gestalt schritt langsam und würdevoll auf ihn zu. Weil sie eine – ebenfalls weiße – weite Kapuze trug, lag ihr Gesicht im Schatten und ließ sich nur schwer genauer erkennen.
„Warum bist du gekommen?“, fragte der Weißverhüllte.
Herr Frensch begrüßte seinen Lehrer höflich und formulierte dann ohne Umschweife sein Anliegen: „Ich möchte lernen, Nein zu sagen, wenn ich Nein meine.“
„Nichts leichter als das“, antwortete der Weiße. „Mache einfach deinen Mund auf und sage ‚Nein’, N-e-i-n. So einfach ist das. Mehr brauchst du nicht zu tun.“
Herr Frensch wusste nicht, ob der Lehrer sein wirkliches Anliegen überhaupt verstanden hatte, oder ob er ihn mit seiner Antwort lediglich auf den Arm nehmen wollte. Der Weiße bewies manchmal einen äußerst trockenen Humor.
„Ganz so einfach ist das nicht“, gab Herr Frensch deshalb zurück. „Natürlich weiß ich, wie man Nein sagt. Aber wenn es wirklich darauf ankommt, kann ich es nicht. Ich habe das schon oft versucht. Ich glaube, ich habe einfach Angst, jemanden zu verletzen, wenn ich Nein zu ihm sage.“
Nach kurzer Pause fügte er hinzu: „Kannst Du mir nicht zeigen, wie man Nein sagt?“
„Ich soll es dir also vormachen“, sagte der Weiße. „Gut, dann sieh genau her.“ Mit diesen Worten wandte er Herrn Frensch den Rücken zu und ging fort.
„Halt, nicht so schnell“, rief ihm der Ratsuchende nach. Aber der Lehrer reagierte nicht mehr darauf.
Verunsichert und ratlos saß Herr Frensch auf seinem Teppich am Strand. Was sollte er tun, zurückreisen oder noch hier bleiben? Vielleicht würde der Weiße ja wiederkommen. Er wartete.
Erst nach längerer Zeit humpelte ein buckliges altes Männlein auf ihn zu. Herr Frensch sah in ein zeitlos altes Gesicht, das ebenso aufgedunsen wie faltendurchfurcht war. Es erinnerte ihn an eine runzlig gewordene, weiche Kartoffel. Zwei Glubschaugen quollen daraus hervor, die ihn glanzlos anstarrten.
„’n Abend“, grunzte der kleine Kerl.
Herr Frensch erwiderte den Gruß freundlich. „Warum kommst du?“, wollte er wissen. „Willst du mich lehren, Nein zu sagen?“
„Nein!“ Mehr sagte der missgestaltete Gnom nicht.
„Aber warum bist du dann hier?“
„Das Nein hast du schon gelernt. Dein Lehrer hat es dir sogar gezeigt. Eigentlich hast du hier nichts mehr zu suchen. Aber wenn du nicht fort willst, ist es gerade so gut. Wir könnten zusammen eine Runde Karten spielen. – Nein? – Dann legen wir uns schlafen. Es ist schon spät, und der Strand ist warm.“
Das Männlein legte sich neben Herrn Frensch, drehte sich einige Male rasch hin und her und erzeugte auf diese Weise eine bequeme Kuhle im weichen, trockenen Sand, in dies es sich einkuschelte. Der kleine Kerl erweckte den Anschein, als wolle er auf der Stelle in tiefen Schlaf fallen.
Herr Frensch gab nicht auf: „Hör zu, es muss doch einen Grund haben, dass du zu mir gekommen bist. War es dein eigener Entschluss, oder hat dich jemand geschickt?“
„Dein Lehrer hat mich geschickt. Er sagte mir, ich solle dir Gesellschaft leisten, du seiest so allein.“
Herr Frensch verstand nicht sofort, was das zu bedeuten hatte. Der Kleine würde ihn der Lösung seines Problems nicht näher bringen.
„Du hast doch gar kein Problem mehr“, sagte der Gnom, als konnte er Gedanken lesen. „Du kannst doch jetzt Nein sagen. Vielleicht weißt du es nur noch nicht. Aber offenbar bist du generell schwer von Begriff. Du hast deinen Lehrer vorhin in eine missliche Lage gebracht, als du ihn batest, dir zu zeigen, wie man Nein sagt. Ihm blieb nichts anders übrig, als sich darauf hin entschieden von dir abzuwenden. Er hat dir NEIN gezeigt. Danach konnte er natürlich nicht mehr zurückkommen. Aber um dir klar zu machen, dass er dich damit keineswegs wirklich verlassen hat, schickte er mich. Wie du siehst, kümmert er sich nach wie vor um dich. Verstehst du denn nicht? Zu einem Menschen Nein sagen bedeutet doch nicht mehr und nicht weniger, als ehrlich zu ihm zu sein. Und das bist du einem Freund doch wohl schuldig. Aber damit wendest du dich keineswegs völlig von ihm ab. Begreife das doch. Wie also kannst du ihn mit einem Nein verletzen? Ein falsches Ja trifft viel härter. Doch ich sehe schon, du brauchst mich nicht mehr.“
Der Kleine stand auf und war plötzlich verschwunden.
Herr Frensch trat die Heimreise an. Sie verlief noch schneller als der Hinflug. Schon kurz nach dem Start schwebte er über den vertrauten Wäldern, entdeckte sein Haus unter sich und landete sanft auf dem Wohnzimmerboden. Die beiden Räucherstäbchen waren inzwischen abgebrannt. Etwas nachdenklich ging Herr Frensch in die Küche und kochte sich einen Kaffee.
Wenig später klingelte das Telefon. Eine Frauenstimme meldete sich: „Hallo, Bert und ich kommen dich heute Abend besuchen. Wir sind gerade auf der Durchreise und wollen dich auch nur kurz überfallen.“
„Nein“, sagte Herr Frensch ruhig, „heute Abend nicht. Es passt mir ganz und gar nicht. Aber gerne ein anderes Mal.“
„Schön, dass du das so frank und frei sagst, was du meinst“, erwiderte die Frau. „Eigentlich passt es uns heute auch nicht. Aber wir dachten, du könntest es uns vielleicht übel nehmen, wenn wir nicht bei dir reinschauen. Wir sind so selten in deiner Gegend. Und erfahren würdest du es schließlich doch, dass wir hier waren. Wenn wir uns also nicht gemeldet hätten…“
„Ist schon gut“, unterbrach Herr Frensch. „Wir sind doch gute Freunde. Ersparen wir uns derartige unechte Höflichkeiten. Ein anderes Mal klappt es sicher. Ich freue mich schon darauf. Ich liebe euch.“ Er legte den Hörer auf.
Seine Freunde, Bekannten und Geschäftskollegen schätzen Herrn Frensch. Er gilt als offen, ehrlich und zuverlässig. Das ist heute selten.
Nein von Felix R. Paturi aus: Der Zeitvogel – und andere schamanische Erzählungen. pbp Verlag
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