04 Juli 2012

Der Sonnengott und die Königin des Meeres


In uralten Zeiten war der Sonnengott Herr und Gebieter über die ganze Natur. Er herrschte über Mond und Sterne, über die Wettergottheiten, über alles Leben auf der Erde. Auch die Menschen verehrten ihn als ihren obersten Gott. Unter seinen wärmenden Strahlen wuchsen und reiften die Früchte auf ihren Feldern, er behütete das Feuer auf ihrem Herd. Doch wehe dem, der seinen Zorn erregte!
In jener lang vergangenen Zeit liebte es der Sonnengott, in Gestalt eines jungen Mannes seine Lieblingsinseln, die vor der Küste im Ozean gelegen waren, zu besuchen.
Dort wanderte er am Strand entlang über den weißen Schaum, den die Wellen auf den Sand geschwemmt hatten.
Eines Tages sah er aus dem Meer eine wunderschöne Frau auftauchen. Ihr schwarzes Haar umwehte den zarten Körper, die Wassertropfen auf ihrer braunen Haut funkelten in allen Farben.
„Wer bist du, schöne Frau?“, rief der Sonnengott entzückt und trat ein paar Schritte ins Wasser. Doch beim Klang seiner Stimme erschrak die Schildkröte, auf deren Rücken die junge Frau saß, und tauchte schnell unter – und die schöne Unbekannte mit ihr.
Der Sonnengott aber fühlte einen tiefen Schmerz, denn er hatte sich in die junge Frau verliebt; nun war sie fort und er wusste nicht, ob er sie wiedersehen würde. Das Meer mit seinen blaugrünen Wellen erschien ihm leer und einsam.
Der Sonnengott setzte sich in den Sand und begann zu weinen. Er weinte und weinte und durch sein Weinen fielen große Schatten auf die Inseln. Der Liebesschmerz des Sonnengottes verwandelte sich schließlich in Wut und in seinem Zorn ließ er eisige Stürme und Gewitter toben. Erde und Meer bebten. Eine riesige Flutwelle überschwemmte die Inseln und tötete fast alles, was hier lebte.
Die überlebenden Tiere versammelten sich voll Entsetzen und berieten, was sie tun sollten. Sie beschlossen, eine Abordnung zu den Schildkröten zu schicken, um sie zu fragen, wer denn diese schöne unbekannte Frau gewesen sei, die auf dem Rücken einer Schildkröte aus dem Meer aufgetaucht war und wo sie wohnte.
Einige Tiere schwammen also ins Meer hinaus, um die Schildkröten zu suchen. Weit draußen tauchten sie in die Tiefe des aufgewühlten Meeres und kamen endlich zu einem zauberschönen Palast. Er war aus regenbogenfarbenem Perlmutt gebaut, das im Schein der Leuchtfische schimmerte. Nachdem die Tiere durch viele Gänge und Winkel geschwommen waren, fanden sie endlich die Schildkröten.
„Liebe Schildkröten“, begann der Delfin, der Sprecher der Gruppe. „Wir möchten euch um einen großen Gefallen bitten. Wenn ihr uns nicht helft, sind wir alle verloren!“ Und er berichtete den Schildkröten von dem unglücklichen Sonnengott, der sich in eine schöne unbekannte Frau aus dem Meer verliebt hatte. „Sie ist auf dem Rücken einer Schildkröte geritten und mit ihr untergetaucht“, fügte er hinzu. „Und deshalb dachten wir, ihr Schildkröten könnt uns vielleicht sagen, wer diese Frau ist und wo sie wohnt.“ „Du sprichst von der Königin des Meeres“, meinte eine Schildkröte.
In diesem Augenblick erschien die Königin des Meeres selbst.
„Verehrte Dame“, sprach der Delfin höflich. „Oben am Ufer sitzt der Sonnengott und weint vor lauter Liebe zu Euch und vor Kummer und Wut schickt er Unwetter, so dass wir alle zu Grunde gehen, wenn sie nicht bald aufhören. Bitte, helft uns! Sprecht mit ihm!“
„Das tue ich gerne“, erwiderte die Königin. „Denn auch ich habe mich in diesen jungen Mann verliebt. Ich wusste nicht, dass er mich liebt und deshalb traurig ist. Ich werde sogleich zu ihm gehen!“
Die Königin des Meeres bestieg eine Schildkröte und ritt auf ihr zum Sonnengott. Die beiden heirateten und wurden sehr glücklich miteinander. Sie lebten zusammen in dem Palast aus regenbogenfarbenen Perlen.
Jeden Morgen steigt der Sonnengott aus dem Meer heraus, um die Erde zu beleuchten und zu wärmen und jeden Abend kehrt er zu seiner geliebten Königin ins Meer zurück.

Indianisches Märchen

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