30 September 2012

Ausbildung zur Weisheit



Ein König hatte einen einzigen Sohn: einen mutigen, gewandten und klugen jungen Prinzen. Den schickte er zur Vervollkommnung seiner Ausbildung zu einem alten Weisen.

"Meister, erleuchte meinen Lebensweg", bat der Prinz.

"Meine Worte werden wie die Spuren deiner Schritte im Sand vergehen", antwortete der Weise. "Aber ich will dir gern einige Hinweise geben. Du wirst auf deinem Weg drei Tore finden. Lies die Worte, die auf jedes von ihnen geschrieben sind, mit Aufmerksamkeit. Ein unwiderstehlicher Drang wird dich treiben, diesen Lehren zu folgen. Versuche ihnen nicht auszuweichen, sonst bist du dazu verurteilt, immer wieder zu durchleben, wovor du geflohen bist. Mehr kann ich dir nicht sagen. Du wirst das alles mit dem Herzen er- und durchleben. Nun geh’. Folge deinem Weg."

Der alte Weise verschwand und der Prinz nahm seinen Lebensweg auf.

Bald stand er vor einem großen Tor, auf dem geschrieben stand: ÄNDERE DIE WELT.

"Genau das will ich ja", dachte der Prinz, "denn wenn mir auch einige Dinge auf der Welt gefallen, andere gefallen mir gar nicht."

Und er führte seinen ersten Kampf. Sein Idealismus, seine Begeisterung und seine Kraft drängten ihn dazu, es mit der Welt aufzunehmen, die Dinge anzupacken, sie zu erobern, sie nach seinem Wunsch zu gestalten. In diesem heißen Bemühen fand er die Freude und den Rausch des Eroberns, nicht aber den Seelenfrieden. Es gelang ihm, einige Dinge zu ändern, doch viele Dinge wieder ließen sich nicht ändern. Jahre vergingen darüber.

Eines Tages begegnete er dem alten Weisen wieder. Der fragte ihn:

"Was hast du auf deinem Weg gelernt?"

"Ich habe gelernt", antwortete der Prinz, "zu unterscheiden, was in meiner Macht liegt und was nicht, was von mir abhängt und was nicht."

"Sehr gut", sagte der Alte. "Setze deine Kräfte für das ein, was in deiner Macht liegt und vergiss, was sich deiner Macht entzieht."

Und er verschwand.

Wenig später stand der Prinz vor dem zweiten Tor. Darauf stand geschrieben: ÄNDERE DIE ANDEREN.

"Genau das will ich ja", dachte der Prinz. "Die anderen sind eine Quelle der Freude, der Zufriedenheit, ja des Glücks, aber auch der Schmerzen, der Bitterkeit und Enttäuschung."

Und so stand er auf gegen alles, was ihn an anderen störte und missfiel. Er bemühte sich, ihr Wesen zu formen und ihre Schwächen und Fehler auszumerzen. Dies war sein zweiter Kampf. Darüber vergingen Jahre.

Als er eines Tages in tiefes Grübeln über Sinn und Zweck seiner Bemühungen versunken war, traf er wiederum den Weisen. Der fragte ihn:

"Was hast du auf deinem Weg gelernt?"

"Ich habe gelernt", antwortete der Prinz, "dass die anderen nicht Ursache und Quelle meiner Freuden und Leiden, meiner Zufriedenheit und meiner Qualen sind. Sie sind nur der Auslöser. In mir selbst liegen die Wurzeln für all diese Empfindungen."

"Du hast Recht", antwortete der Weise. "Die anderen rufen nur Dinge in dir wach, die bereits in dir ruhen. Sei denen dankbar, die Glück und Freude in dir wecken. Aber zolle auch Dankbarkeit denen, die dich enttäuschen und leiden lassen, denn durch sie lehrt dich das Leben, was du noch zu lernen hast und wie weit der Weg noch ist, den du zu gehen hast."

Mit diesen Worten verschwand der Alte.

Kurze Zeit darauf stand der Prinz vor dem dritten Tor und las: ÄNDERE DICH SELBST.

"Wenn ich selbst die Ursache meiner Probleme bin, dann ist das der einzige Weg, der mir bleibt", sagte er sich.

Und er nahm seinen dritten Kampf auf: Er versuchte sein Wesen zu formen, seine Fehler zu bekämpfen, alles das zu ändern, was ihm an sich selbst missfiel, was seinem Idealbild nicht entsprach. Nach langen Jahren des Kampfes, während derer er einige Erfolge erzielte, aber auch Niederlagen hinnehmen musste, traf der Prinz den Alten wieder, und der fragte ihn:

"Nun, was hast du auf deinem Weg gelernt?"

"Ich habe gelernt", antwortete der Prinz, "dass es Dinge in uns gibt, die wir verbessern können, aber auch Dinge, die sich dem widersetzen und die wir nicht ändern können."

"Das ist richtig", antwortete der Weise.

"Ja", sprach der Prinz weiter, "aber ich beginne, all meiner Kämpfe müde zu werden, des Ringens mit anderen und mit mir selbst. Wird das nie ein Ende finden? Wann werde ich jemals zur Ruhe kommen? Ich möchte die Waffen niederlegen und mich bescheiden.

"Das ist die nächste Lehre, die du erkennen sollst", antwortete der Weise. "Bevor du aber weiter gehst, kehre dich um und betrachte den Weg, den du gegangen bist."

Dann verschwand er.

Als der Prinz sich umschaute, erblickte er weit unter sich das dritte Tor und sah, dass auch auf der Rückseite noch etwas geschrieben stand:

AKZEPTIERE DICH SELBST.

Der Prinz wunderte sich, dass er diese Inschrift nicht schon damals gesehen hatte, als er das Tor von der anderen Seite durchschritten hatte.

"Das Kämpfen macht blind", sagte er sich.

Und als er um sich schaute, sah er – verstreut am Boden – alles liegen, das er in sich selbst bekämpft hatte, all seine Fehler, seine Schattenseiten, seine Ängste, seine persönlichen Grenzen, seine alten Dämonen. Da begann er sie anzunehmen, sie zu akzeptieren, ja sie zu lieben. Er lernte sich zu lieben, ohne sich ständig zu vergleichen, sich zu beurteilen und sich zu tadeln.

Da traf er wieder den Weisen, der ihn fragte:

"Was hast du auf deinem Weg gelernt?"

"Ich habe gelernt", antwortete der Prinz, "dass ich dazu verurteilt bin, niemals im Einklang mit mir selbst leben zu können, wenn ich einen Teil von mir verabscheue oder ablehne. Ich habe gelernt, mich selbst ganz und gar und bedingungslos anzunehmen."

"Das ist gut", sagte der Weise. "Das ist die erste Weisheit. Nun kannst du das dritte Tor durchschreiten."

Kaum war der Prinz auf der anderen Seite angelangt, erblickte er das zweite Tor, auf dem geschrieben stand:

AKZEPTIERE DIE ANDEREN

Und um sich herum erkannte er all die Menschen, denen er in seinem bisherigen Leben begegnet war, die geliebten und die verachteten, die, die er unterstützt hatte, und die, die er bekämpft hatte. Zu seiner großen Überraschung aber konnte er nun ihre Unvollkommenheiten, ihre Schwächen und Fehler nicht mehr wahrnehmen, die ihn einstmals so sehr gestört hatten und gegen die er sich aufgelehnt hatte.

Da traf er wieder den alten Weisen.

"Was hast du auf deinem Weg gelernt?", fragte der ihn.

"Ich habe gelernt", entgegnete der Prinz, "dass, wenn ich im Einklang mit mir selbst bin, ich den anderen weder Vorwürfe mache noch mich vor ihnen fürchten muss. Ich habe gelernt, die anderen ganz und gar und bedingungslos zu akzeptieren und zu lieben."

"Sehr gut", nickte der Weise. "Das ist die zweite Weisheit. Du darfst nun das zweite Tor durchschreiten."

Auf der anderen Seite des Tores angekommen, erblickte der Prinz vor sich das erste Tor und las die Worte:

AKZEPTIERE DIE WELT

"Merkwürdig", dachte er, "dass ich diese Inschrift nicht schon beim ersten Mal gesehen habe." Er sah sich um und erkannte die Welt, die zu erobern, zu gestalten und zu verändern er versucht hatte, und er war vom Glanz und der Schönheit aller Dinge wie geblendet. Geblendet von ihrer Vollkommenheit. War das wirklich die Welt von damals? Oder hatte sich sein Blick verändert?

Wieder kreuzte der Weise seinen Weg und fragte ihn:

"Was hast du auf deinem Weg gelernt?"

"Ich habe gelernt", sagte der Prinz, "dass die Welt ein Spiegel meiner Seele ist. Nicht meine Seele sieht die Welt, meine Seele spiegelt sich in der Welt. Wenn sie sich freut, ist die Welt voller Freude. Wenn sie trauert, erscheint die ganze Welt traurig. Die Welt selbst ist weder froh noch traurig. Sie ist einfach – das ist alles. Nicht die Welt hat mich gestört, sondern das Bild, das ich von ihr hatte. Ich habe gelernt, sie ohne Urteil zu akzeptieren, ganz und gar, bedingungslos."

"Das ist die dritte Weisheit", sagte der Alte. "Nun bist du im Einklang mit dir selbst, mit den anderen und mit der Welt."

Ein tiefes Gefühl von Frieden, Heiterkeit und Vollendung erfüllte den Prinzen. Eine unendliche friedliche Stille war in sein Herz gezogen.

"Nun bist du bereit, die letzte Schwelle zu überschreiten", sagte der Weise. "Die Schwelle von der Stille des Erfülltseins zum Erfülltsein der Stille."

Und er verschwand zum letzten Male.

Charles Brulhart

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