06 November 2017

Frau Herbst und der Dichter

An einen frühen Novemberabend, der Dichter saß gerade beim Abendbrot, klingelte es an der Tür. Wer mochte das wohl sein? Er erwartete eigentlich keinen Besuch mehr heute. Als er öffnete, stand eine freundliche ältere Dame auf der Fußmatte. Sie lehnte sich in die Tür, sodass sie recht nah bei ihm stand. Wahrscheinlich war sie kurzsichtig. Er schaute sie fragend an. „Entschuldigen Sie, dass ich Sie noch so spät behellige. Mein Name ist Herbst, Sie wurden mir von Frau Sommer empfohlen und ich brauche unbedingt ein Gedicht von Ihnen“, stellte sie sich vor.

Sommer, Hebst … er musste lächeln. Das war nach seinem Geschmack und er bat sie herein. Sie trat in die Diele und er half ihr aus dem Mantel, der nach Laub und Sonne duftete. Sie sah aus wie eine typische Lehrerin. Leicht graue Haare, eine Brille auf der Nase, ein bisschen verhuschte, grau-braune und rostrote Kleider. Dass es so etwas noch gab! Sie wirkte etwas zerbrechlich und strahlte eine Würde und Gelassenheit aus, die einem anderen Zeitalter zu entstammen schien.

„Ich esse gerade zu Abend, möchten Sie auch etwas?“ „Wenn Sie eine Tasse Tee für mich hätten, wäre ich nicht abgeneigt“, erwiderte sie und hielt sich ziemlich nah bei ihm, als sie ihm folgte. Sie muss wirklich sehr kurzsichtig sein, dass sie mir so auf die Pelle rückt, dachte der Dichter bei sich. Er bot ihr einen Platz im Wohnzimmer an und ging in die Küche, um den Tee aufzubrühen.

Als er sich nach ihr umdrehte und aus der Entfernung ansah, erfasste ihn ein leichtes Grauen. Von Nahem hatte sie vertrauenswürdig gewirkt, aber jetzt, aus der Entfernung, hatte sie etwas Unheimliches, ja Beängstigendes an sich. Hässlich und düster, sah sie aus. Warum war ihm das eben nicht aufgefallen? Er ängstigte sich fast ein bisschen und war drauf und dran, sie hinauszukomplimentieren. „Nein,“ sagte er zu sich, „das tut man nicht. Bilde dir nichts ein. Das ist nur eine nette ältere Dame, die zudem auch noch auf Empfehlung gekommen ist.“ Und doch machte ihn dieses schattenhaft Düstere, das um sie lag, ein wenig bange. Schnell wandte er sich von ihr ab, das war sicher nur Einbildung.

Endlich war der Tee fertig und er setzte sich zu ihr. Da war die Angst verflogen, denn sie sah eigentlich ganz normal aus und er hörte ihr nun aufmerksam zu. „Ich brauche bitte ein gutes Gedicht von Ihnen. Etwas Schönes, Verständiges, damit die Menschen mich besser verstehen,“ begann sie. „Wenn Sie ihre kunstvollen Worte gebrauchen, hören die Menschen zu. Dann haben sie keine Angst mehr vor mir.“ Oh, hatte sie etwa sein Schaudern vorhin in der Küche mitbekommen? Wie unangenehm. Das war wirklich albern gewesen, denn nun schaute er in gütige, tröstliche Augen. Er holte sich Zettel und Stift, um sich Notizen zu machen, denn er war ja professionell.

„Was unterrichten Sie denn und was möchten Sie, dass ich schreibe?“, fragte er sie ganz in seinem Element. „Ich lehre Vergänglichkeit und unterrichte Jung und Alt“, war ihre Antwort. Er stutzte. Was würde denn jetzt kommen? Und sie erzählte von der Herbstzeit, in der sich die Menschen in die Geborgenheit ihrer Häuser zurückziehen. Sie rücken zusammen und in alter Zeit saßen sie
gemeinsam um das Herdfeuer. Es war die Zeit des Geschichtenerzählens und man verarbeitete das, was man im Sommer mit viel Mühe hat gedeihen lassen. Man verarbeitete auch das, was jetzt war und was jetzt kommen würde. Jeder hatte einmal Fehler gemacht, jeder hatte seine Schwierigkeiten, war etwas erschöpft, vielleicht nicht mehr so vital. Davon konnte jeder berichten, aber auch von Erinnerungen, die sich wie Goldfäden in die Erzählungen einwoben.

Da sich die Menschen nah waren und einander mitteilten, hörten sie sich besser zu, wurden vertrauter und gütiger miteinander. Jeder nickte verständig, denn so etwas hatten sie alle erlebt und sie erlebten auch alle das Nachlassen der Kräfte, das größere Ruhebedürfnis, das Altern, das Schwinden von vielem, was einmal so wichtig erschien. Wenn sie näher beieinander waren, verstanden sie einander besser, nahmen die Dinge nicht mehr so genau und verziehen leichter. Und wenn in der Natur die Ernte eingebracht war, wurde alles ruhiger. Die Zeit des Hastens und der Strenge in der Arbeit mit der Ernte ging vorüber. Das war doch durchaus schön, nicht?

Während Frau Herbst erzählte, schaute er auf ihre jetzt leicht geröteten Apfelwangen. Ihre Augen glänzten und strahlten Wärme aus. Sie war wohl mit Leib und Seele Lehrerin und das, was sie zu lehren hatte, war tatsächlich wichtig für die Menschen. „Wissen Sie,“ fuhr sie fort, „das hat natürlich auch etwas Trauriges, ja Beängstigendes, denn wir alle wissen, dass nicht jeder wieder einen Frühling erleben wird. Vielen steht sogar der Winter bevor und der Gang ins Ungewisse. Aber wenn wir dann nicht allein sind, weil wir unsere Vergänglichkeit miteinander teilen können, ist es nicht mehr so schwer. Dann können wir zusammen den Abschied lernen, denn das müssen wir. Eins nach dem anderen müssen wir gehen lassen und es ist doch ein Geschenk, wenn man das Schritt für Schritt tun kann, nicht wahr? Das ist Vergehen, langsam und verträglich in kleinen Schritten. So, wie der Herbst Tag für Tag ein wenig mehr Dunkelheit schickt. Wir können uns daran gewöhnen, wenn wir ihm nur nah genug bleiben und nicht vor ihm davonlaufen.“

Den Dichter traf die Erkenntnis wie ein Blitz. Nähe! Als sie nah bei ihm gestanden hatte, erschien sie ihm freundlich und vertraut, aber als er sie aus der Entfernung betrachtet hatte, war ihm Angst vor ihr geworden. Man muss sich die schwierigen Dinge, eben die Vergänglichkeit, vertraut machen, damit man keine Furcht mehr vor ihr hat. Ja, das wollte er schreiben!

„Ich weiß, was Sie jetzt denken“, weckte ihn Frau Herbst aus seinem Sinnen. „Aber benutzen Sie bitte die Poesie, Vergleiche aus der Natur. Beschönigen Sie nichts aber benutzen Sie die Schönheit. Das macht es den Menschen leichter. Werfen Sie mir einen leichten Schleier über, wie für eine schöne Dame. Ein bisschen Schutz für die Augen braucht man schon, denn in die Sonne kann man ja auch nicht ungeschützt sehen, nicht wahr? Der Schleier soll auch rot und golden sein, wie der Herbst, und nicht nur grau und düster. Dann traut man sich eher an mich heran und kann mich besser betrachten. Finden Sie die Worte, die es braucht, um über das Unausweichliche, eigentlich Unerträgliche sprechen zu können, damit die Menschen in meiner Gegenwart nicht vor Angst und Sorge verstummen oder vor mir fliehen. Wenn sie die Vergänglichkeit annehmen können, werden sie auch nicht bitter. Sie sollen leuchten und von ihrer Ernte geben können, auch wenn sie vielleicht ein bisschen traurig und besorgt sind. Man kann doch nur teilen, wenn man etwas angenommen hat vom Leben, richtig?“

Hier nahm sie seine Hand und sprach eindringlich: „Bitte nehmen Sie das als eine sehr wichtige Aufgabe. Ohne Sie und die Poesie vermag ich viel weniger. Bitte legen Sie Ihr Herz und Ihre Liebe in das Gedicht hinein. Schreiben Sie über die Natur, schreiben Sie viele Verse. Kurze Gedichte oder lange oder viele – Sie sollen gut dafür belohnt werden. Ihre Poesie soll in aller Munde sein, denn die Menschen müssen ja auch in Schönheit sprechen können. Wollen Sie das tun?“ Ihre faltige Hand lag warm auf der seinen und in ihren Augen fand er noch immer Jugend und Lebendigkeit. Aber sie brannte nicht und sie verlangte nicht. Sie war gereift und voller Verstehen gemischt mit etwas Schmerz und Melancholie. Das war die Vergänglichkeit, das lehrte sie und er spürte ihre große Kraft als Teil des Lebens.

Der Dichter hatte einen Kloß im Hals und konnte nicht sogleich antworten. Jedoch drückte er ihre Hand als ein Versprechen, dass er sich große Mühe geben würde. Er würde sie mit Wahrhaftigkeit und Schönheit umhüllen, würde von der Natur borgen, die ja das Leben selbst war, damit man alles gut verstehen konnte. Und er würde versuchen, in etwas hineinzusehen und auszudrücken, was man eigentlich nicht verstehen und nicht annehmen kann. Aber seine Poesie würde es leichter machen, das versprach er Frau Herbst an diesem Abend.

Lebenslilie

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